Würzburger Geschichten: “Der Radiergummi oder wie man die Rechtschreibung lernt”


Meine zwei ersten Jahre der Grundschulzeit verbrachte ich an der neuen Hauger Schule. Das war eine schöne Zeit. Der Schulweg von der Wallgasse bis zur Semmelstraße war kurz. Gelaufen bin ich jeden Tag mit meinem Freund Thomas M. Allerdings war der Heimweg schöner. Da spielten wir immer Ritter. Die Anorak-Kapuze wurde stets aufgezogen und der Rest baumelte am Rücken runter, das war der Rittermantel. So zogen wir meist zu viert vom Hinterausgang in der Wallgasse zur Neutorstraße. Ein Halt wurde meist am Ende der Neutorstraße eingelegt. Gegenüber vom heutigen „Pan di Zucchero“ befand sich ein kleiner Laden, zu dem drei oder vier Stufen hinaufführten, der für kleine „Rittersleut´“ Bärendreck bereithielt. Für vier Zehner waren wir täglich eingedeckt, um unseren kleinen Kreuzzug zu Ende zu führen. Im schönen Hof der Semmelstraße 67 schauten wir nach, ob der dicke Boxer von Herrn Loos  zu sehen war, „Ritter“ lieben Hunde. Wenn er da war, dann wurde der durchgeknuddelt, obwohl er fürchterlich muffte. Dann ging es weiter zum Bäckerbrunnen an der Metzgerei “Lotter” vorbei und dann ins Ladenzimmer der Metzgerei Martin, in der mich schon der Leberkäsduft erwartete. Der Leberkäs der Metzgerei Martin galt als der beste der Stadt. Noch heute schwärmen die Leute davon. Meine Mutter stand meist im Laden und bediente. Kurz nach eins gab es Mittagessen , das wir im kleinen Ladenzimmer an einem mickrigen Tisch neben dem dampfenden Leberkäsbräter einnahmen. Täglich gab es Suppe, Hauptgericht und Nachspeise – freitags fleischlos. Da von 13 Uhr bis 14 Uhr Mittagspause war, konnten wir fast ungestört zu Mittag essen. Bisweilen jedoch, als ich in der 3. Klasse in der Pleicher Schule war, kam oft ein ungebetener Gast, der an der Ladenzimmertür im Hof klopfte: Frau Motzel, meine Klassenlehrerin, eine ausgezehrte, alte silberlockige Jungfer, um deren beinahe skelettierten Extremitäten dunkelblaue Baumwollhosen schlotterten. Mutter musste sie dann immer schnell für ihre großen Einkäufe (75 g Fleischwurst, 1 Knäudele und 100 g Hackfleisch) bedienen. Ich war stets froh, wenn sie wieder weg war. So funktionierte damals eine Sprechstunde mit den Erziehungsberechtigten. Nachdem der Tisch abgeräumt war, wischte Mutter den Tisch und das Katholische Volksblatt wurden fein säuberlich auf dem Tisch ausgelegt. Zeichen für mich, dass jetzt neben dem Leberkäsbräter die Hausaufgabenzeit unter dem wachsamen Auge meiner Mutter begann. Ich bin Linkshänder und man hatte mir unter Nachdruck beigebracht, rechts zu schreiben. So holte ich die Hefte mit der Erstklasslineatur heraus und begann zu schreiben. Währenddessen war das Geschäft wieder offen und Kunden mussten bedient werden. Ich gab mir Mühe und schrieb mit Bleistift bzw. nun mit Füller fein säuberlich auf Orthografie achtend. Mutter kam und kontrollierte. „Hm, da hast du ein Wort vergessen! Das schreibst du gleich noch einmal!“ Ratsch – und schon war die Din A5 Seite herausgerissen und die zweite Hälfte des Blattes auch. „Gib dir Mühe!“. Kurze Zeit später. „Da hättest du mehr Abstand zwischen den Wörtern lassen müssen. Das hast du so ´neigeknört“. Ratsch – Seite raus. „Löschblatt unter die Hand, dass ja kein Fettflecken drauf kommt.“ Das Heft wurde nun schon merklich dünner. Ein erneuter Versuch. Mir taten schon die Griffel weh, die „Schreibkraft“ ließ nach. Pfeife – verschrieben! Mutter jetzt recht angesäuert: „Jetzt müssen wir radieren.“

Der blaue Anteil des Radierers schmiert. Der Leberkäsbräter dampft munter vor sich hin. Jetzt ist auch noch ein Fettflecken drauf. Noch einmal. Wieder verschrieben. Es wurde der hellblaue Radierer erneut strapaziert. Die Lineaturseite wurde durch den wiederholten Einsatz des Radierers zunehmend aufgeraut. Tintenkiller gab´s noch nicht. „Pfeife – jetzt ist das Schreibblatt auch noch durchgerubbelt. Geh´schnell zum Schreibwaren „Kurtze“ und kauf´ ein neues Heft!“ So fiel es mir leicht die deutsche Orthografie zu erlernen. Meine Mutter übrigens, hatte nie eine schöne Schrift besessen. Das Wort Weißwurst war bei ihr nur mit Fantasie zu lesen. Zwei W im Abstand, nach jedem ein waagrechter Strich! Martinsche Kurzschrift halt. Leberkäse:

L strich k strich! Geht doch!

4 Antworten auf „Würzburger Geschichten: “Der Radiergummi oder wie man die Rechtschreibung lernt”“

Schreibe einen Kommentar zu Lieb Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert